Im heutigen Seminar bekamen wir die Möglichkeit, mit Alex Rühle, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung und Autor (Ohne Netz - Mein halbes Jahr offline) zu skypen. Gegenstand der Sitzung war sein bereits erwähnter Roman und die Erfahrungen, die er darin schildert. Vorab konnten wir uns mit einem großzügigen Auszug dieses Buches auf die Sitzung vorbereiten. Kurzum: Alex Rühle schildert in diesem "Tagebuch", wie er ein halbes Jahr auf Internet (und Smartphone) verzichtet hat. Erschienen ist das Buch 2010, da absolvierte ich gerade mein zweites bzw. drittes Semester.
Zu dem Zeitpunkt nannte ich ein Sony Ericsson C905 mein Eigen. Nicht besonders smart, aber dennoch internetfähig. Als ich es mir im Sommer 2009 kaufte, konnte ich mir mir Sprüche wie "Internet auf dem Handy, wozu braucht man das denn?!" anhören. Nichtsdestotrotz. Ich fand es schon ganz schön praktisch. Navigation, Mails, Facebook und Twitter - alles auf einem Fleck! Nicht erwähnen muss ich, glaube ich, dass gerade die Bekannten, die derartige Kommentare mit hochgezogener Augenbraue äußerten, im Regelfall die ersten waren, die stolz ihr iPhone präsentierten. Jaja.
Ich hingegen wünsche mir in letzter Zeit - seit knapp einer Woche bin ich nun im Besitz eines iPhone 5, nachdem mein Samsung Galaxy SII mir immer häufiger den Dienst verweigerte - immer häufiger, dass es nicht diese gewisse Selbstverständlichkeit gäbe, immer und überall erreichbar zu sein. Dozenten in der Uni stellen am Abend vor der Sitzung schnell noch mal einen Text ins Blackboard, der Arbeitgeber ruft nachmittags an und möchte, dass man am nächsten Tag um acht Uhr auf der Matte steht und selbst Planungen für Abende mit den Freunden werden irgendwie so nebenbei gemacht. Die werden nämlich mit derselben Flüchtigkeit geplant wie auch wieder gecancelt oder sonstwie geändert. Mein Office ist ein beliebiges Bahnabteil. Da werden Texte für die Uni gelesen, Telefonate mit Arbeit #1 und #2 geführt, nebenbei die nächste Latein-Nachhilfestunde abgesprochen, Kurse für Arbeit #2 organisiert, recherchiert und Mails für Job #3 beantwortet und dank WhatsApp und der Möglichkeit, dort Gruppen zu bilden, Wochenendaktivitäten geplant. Bevor ich das iPhone hatte, war ich in der Lage, verschiedene Vibrationsmuster der jeweiligen Nachrichtenart zuzuordnen. Als meine Eltern mich fragten, warum ich denn wieder so ein "teures Teil" bräuchte, fiel mir nicht wirklich eine Antwort ein. Schon gar keine zufriedenstellende. Ich braaauchee das halt. Mit einer eindeutigen Betonung auf brauchen. Das klingt, als käme es auf einer Rangliste gleich nach Sauerstoff. Manchmal, da beantworte ich Mails noch vor sieben Uhr morgens. Die erste und letzte Amtshandlung eines durchschnittlichen Tages ist der Blick aufs Telefon.
Als ich die Ausschnitte aus Ohne Netz - Mein halbes Jahr offline laß (in der Bahn natürlich), fühlte ich mich irgendwie ertappt, als die Rede von Phantomschmerzen war. Diese eingebildete Vibration des Handys, von dem Alex Rühle berichtete. Das kennen wahrscheinlich die meisten. Zunächst musste ich schmunzeln, um dann doch ein wenig erschrocken festzustellen, welchen Stellenwert das Bedürfnis nach Verbundenheit mit seiner Umwelt eingenommen hat.
Das Buch schließt mit dem Kommentar eines Kollegen Rühles, der lieber auf seine Finger als auf das Internet verzichten würde. Und da war es wieder, das zweite Semester. Marshall McLuhan und Medien als "extension of man". Gleichzeitig musste ich an meinen Vater denken, der davon überzeugt zu sein scheint, dass mein Arm mit meinem Smartphone verwachsen ist. Das scheint irgendwie ganz schön vielen Menschen so zu ergehen... Wenn ich während eines Kurses (Job #2, zur Orientierung) die langersehnte erste Pause nach etwa 90 Minuten einleite, zücken meine "Kurskinder" (in der Regel um die 16 Jahre alt) direkt ihre Handys. Anstatt sich miteinander zu unterhalten wird geschwiegen.
Dieses Thema hat mich den ganzen Tag beschäftigt und ich denke, das wird auch noch eine Weile so bleiben. In der Ausgabe 10/2011 der Frankfurter Hefte gibt es einen interessanten Artikel von Tobias Eberwein, den ich u.a. noch dazu gelesen habe. Es geht dabei speziell um Socia Media[1].
Meine Frage an Alex Rühle war: "Würden Sie das noch einmal machen?" Er beantwortete die Frage mit "ja", sagte aber auch, dass es heutzutage, also etwa drei Jahre später, wohl noch schwieriger wäre. Das glaube ich ihm sofort. Schließlich hat mein feuerroter Fuchs gerade sechs geöffnete Tabs (eines davon Twitter), mein Notebook ist an meine Knie gelehnt und auf dem Bauch ruht mein iPhone. Im Hintergrund rattern Dropbox und Evernote. Nach der Sitzung landete Ohne Netz - Mein halbes Jahr offline auf meiner Wunschliste bei Amazon. (Ironie, haha.) Schließlich warten hier noch zwei Dutzend ungelesene Bücher auf ihren Einsatz. Irgendwann nehme ich mir die Zeit. Bestimmt.
[1] http://www.frankfurter-hefte.de/upload//2011_10_Eberwein_Web.pdf (22.01.2012)
